Unglaublich, was sich aus einem Stuhl machen lässt

Zu einem wahren Happening geriet am Freitag abend die Vernissage im «Forma» an der Vorstadt 44. Victor Pigagnelli, Felix und Claudio Aries hatten 20 Künstler, Designer und Grafiker eingeladen, aus einer Sitzschale etwas Neues zu machen, die Theo Häberli in den sechziger Jahren entwickelt hatte. Erlaubt war alles, mit einer Ausnahme: die Künstler durften keinen Stuhl anliefern. Die Ergebnisse dieses Experimentes präsentieren Pigagnelli und die Brüder Aries jetzt in einer Ausstellung.

Die Sitzschale «Grazile» (sprich «Grasil»), die der Schaffhauser Innenarchitekt Theo Häberli vor rund zwanzig Jahren entworfen hatte, war zu ihrer Zeit ein Renner. «Weil die Produktionskosten damals so hoch waren, liess er gleich eine Grossauflage herstellen. Als wir vor einem Jahr das Geschäft für Innenarchitektur und Wohngestaltung von Theo Häberli übernahmen, mussten wir auch den Restbestand an ‹Grazile›-Stühlen übernehmen», erläutert «Forma»-Geschäftsführer Victor Pigagnelli den Hintergrund zu dieser Ausstellung. Sie hätten sich lange überlegt, was sie damit anfangen sollten, erzählt Felix Aries, bis sie schliesslich auf die Idee gekommen seien, kreative Leute aus ihrem Kunden- und Bekanntenkreis einzuladen, die «Grazile»-Schale nach ihren Ideen und Vorstellungen weiter zu verarbeiten.

 

Von Asche bis Käse - aber immer kreativ

Wer nicht gesehen hat, was die 20 Künstler, Grafiker und Designer aus Schaffhausen, aus Zürich, Bern und Basel alles mit ein und derselben Sitzschale angestellt haben, der hat Mühe, es zu glauben. Zwei Künstler zum Beispiel sind besonders radikal vorgegangen: Marie Louise Leus präsentiert einen Beutel Asche und eine Sequenz von Sofortbildern, welche die Verbrennung der Sitzschale dokumentieren. «Ich kann nicht etwas Eigenständiges aus einem Objekt machen, das bereits von jemand anderem gestaltet worden ist», meinte sie zu ihrem Werk. Ähnlich argumentierte der Schaffhauser Rene Weber: die einzige Konsequenz für ihn bestand darin, das Objekt auf den Müll zu werfen - folglich stellt er an der Vorstadt 44 drei Kehrichtsäcke aus mit einem vielsagenden Titel: «Sperrgut». Nicht vernichtet, aber durchlöchert hat der Grafiker und Designer Andreas Fahrni aus Schaffhausen/Bülach Häberlis Sitzschale: «Original Emmentaler Melkstuhl ‹de Luxe›» weist rund 20 grosse und weniger grosse Löcher auf, für deren Form und Anordnung ein Emmentaler Käse Modell gestanden hat. Ein hübsch gedrechseltes Stuhlbein macht die ehemalige «Grazile»-Schale zum wohl bequemsten Melkstuhl der Welt. Pfiffig auch Fahrnis Präsentation: zur Vernissage stellte er unter seinen Stuhl eine Holzplatte - mit Emmentaler Käse-Stückchen für die Gäste.

 

Frauen-Phantasien

Die geschwungene Form von Häberlis Stuhl hat eine ganze Reihe von Künstlern zu mehr oder weniger erotischen Frauen-Phantasien beflügelt Peter Ruch etwa kombinierte den Stuhl mit Frauenbeinen, wie sie in Schaufenstern zur Präsentation von Damen-Strumpfhosen verwendet werden, und bemalte das Objekt in erotischem Leoparden-Muster. Christian Breuning aus Marthalen konstruierte aus der Sitzschale eine Frau und baute darum herum einen halben Altar - das Werk heisst «Lisa am Strand» und stellt eine Sonnenanbeterin dar. Ebenfalls ein Strandmotiv schuf Dominique Grau: er verwandelte «Grazile» in eine «Grazile Dame» - mit rundem Busen, schwarzem Slip, Badetuch und einem Fläschchen Sonnenöl. Und Kurt Bruckner lässt die Schale zur «Grazil-Dame» erstehen: Füsse und Katzenkopf aus Marmor, die Haut aus Klebe-Gummi aus der Tube. Gleich einen Mythos macht der Schaffhauser Vespa-Metzger Thomas Lösch aus seinem Objekt «Cockpit»: «In der Bilderwelt der fünfziger Jahre erscheint das Cockpit als ein spezifischer Ort des Mannes, der Ort, an dem sich männliche Potenz im Superlativ äussert», zitiert Lösch einen Text von Fritz Kramer und fügt lakonisch bei: «In meinem Cockpit sitzt der Mann vorne, die Frau hinten» - dargestellt durch einen Helm (für den Mann) und ein schwarzes Spitzen-Dessous (für die Frau).

 

Und zwei Geburtstage

Einen weiteren Grund für diese Vernissage verriet Victor Pigagnelli den Gästen: Er und Felix Aries wurden am 28. März dreissig. Eigentlich hätte das Fest an jenem Datum steigen sollen, «aber das war ein Mittwoch, und an einem Mittwoch baut man kein Fest -darum feiern wir jetzt.» (rf)

Frauenphantasien: ein verführerisches Leoparden-Muster auf erotischschlanken Frauenbeinen, dem Kopf Peter Ruchs entsprungen.
Frauenphantasien: ein verführerisches Leoparden-Muster auf erotischschlanken Frauenbeinen, dem Kopf Peter Ruchs entsprungen.
Der Künstler mit seinem Werk: Andreas Fahrni gestaltete aus der Hä-berli-Sitzschale einen Emmentaler Luxus-Melkstuhl - und offerierte den Gästen Häppchen aus Emmentaler Käse.
Der Künstler mit seinem Werk: Andreas Fahrni gestaltete aus der Hä-berli-Sitzschale einen Emmentaler Luxus-Melkstuhl - und offerierte den Gästen Häppchen aus Emmentaler Käse.

Quelle: Schaffhauser Nachrichten, 10. April 1984