Wenn der Zerfall den Abschied erleichtert

Mit aussergewöhnlichen Kinos verbinden sich aussergewöhnlich starke Gefühle. Das Beispiel «Apollo» am Stauffacher beweist es. Dort hat sich die ehemalige Liebe zum imposantesten Zürcher Kino nach dessen Abbruch in destruktiven Hass und wöchentlich zerschlagene Scheiben verwandelt. In Schaffhausen wird es nicht so weit kommen, das lässt sich leicht voraussagen. Die Zuneigung aber, die viele Schaffhauserinnen und Schaffhauser zu den Kinos Rüden und Buchsbaum gehegt haben, war deswegen nicht weniger gross als diejenige, die die Zürcher mit ihrem «Apollo» verband. Grund genug also, wenn nicht die Destruktivität, so doch die Melancholie zu pflegen und Schaffhausen nach den Spuren abzuklopfen, die die beiden Kinos in Archiven, Zeitungen und Gedächtnissen hinterlassen haben.

Ein hoher Genuss

Zumindest - und das ist doch schon was - weiss man, wann der Film in den beiden Kinos anlief. Das ältere der beiden, das «Cinema Palace Rüden» wurde am 13. November 1926, an einem Samstag nachmittag um drei, «der Öffentlichkeit übergeben», wie es damals hiess. Von aussen präsentierte sich das «Palace-Rüden» in «schlichter, einfacher Art», schrieb das «Schaffhauser Intelligenzblatt» rechtzeitig zur Eröffnung, doch lasse die Innenausstattung «einen nicht gewöhnlichen architektonischen Geschmack durchblicken». Insbesondere die «mit viel Fachkenntnis ausgewählten, teilweise magisches Licht ausstrahlenden Beleuchtungskörper» waren dem Berichterstatter positiv aufgefallen. Aufmerksamkeit erregte auch der Krupp-Ernemann-Projektionsapparat, der die «Vorführungen zu einem hohen Genuss» werden lasse.

 

Massenbesuch im «Palace»

Verständlich, dass das «Intelligenzblatt» nach dieser Lobrede am darauffolgenden Montag von einem «Massenbesuch» berichten konnte. Schon damals wurde die Vermutung gehegt, dass «das Cinéma Palace inskünftig im gesellschaftlichen Leben unserer Stadt eine bedeutende Rolle zu spielen berufen sein wird». Einziger Schwachpunkt, hiess es in einem zweiten Bericht tags darauf, sei die Plazierung des kleinen Orchesters, das die Stummfilme ansonsten «recht gefällig» untermalt habe. Ungeteilte Anerkennung hingegen fand der Premierenfilm «An der schönen blauen Donau», der in «liebenswürdiger, leichter Weise Herz und Sinn» der Zuschauerinnen und Zuschauer bewegt habe. Gottfried Zehnder-Fässler, der die Liegenschaft Rüden/Rüdengarten 1912 von Johann Vogelsanger erworben hatte, hatte also offenbar ganze Arbeit geleistet und ein Kino eingerichtet, das damals, wie es im «Intelligenzblatt» hiess, einem «absoluten Bedürfnis» entsprach.

 

Echt oder unecht?

Dass auf dieses «Bedürfnis» mit so viel Nachdruck hingewiesen wurde, hat seine Gründe. Eines der wichtigsten Argumente der Kinogegner war seit jeher, dass die ganze Filmwirtschaft keinen echten, «natürlichen» Bedürfnissen entspreche, sondern «unechte», dem Menschen nicht angeborene Bedürfnisse schaffen würde. Zugleich war man von offizieller Seite her der Überzeugung, dass eine zu grosse Konkurrenz unter den Kinobesitzern das - insbesondere sittliche - Niveau der Filme nicht verbessere, sondern verschlechtere. Also versuchte man, die Zahl der Kinos knapp zu halten. Da es aber keine gesetzliche Handhabe gab, um den Betrieb eines Kinos gänzlich zu verbieten, musste man sich zähneknirschend mit der peinlich genauen Einhaltung der strikten Bauvorschriften für Kinos aus dem Jahre 1910 und der Beachtung städtebaulicher Aspekte begnügen.

 

Bringolf sperrte sich

Auf diese Weise wollte man dann auch in den Jahren 1946/47 den Bau eines weiteren Grosskinos in Schaffhausen verhindern. Für einmal umsonst, wie sich herausstellte. Zwar gelang es vorerst, das Bauvorhaben von Richard Rosenthal, dem Betreiber des Zürcher Kinos Bellevue, zu verhindern. Dieser wollte ein 450 bis 500 Personen fassendes Kino einrichten und hatte zu diesem Zweck im Mai 1946 den «Adler» an der Vorstadt gekauft. Doch stiess er damit auf den Widerstand von Stadtpräsident Bringolf, dem die drei Schaffhauser Kinos vollends genügten und der, wenn es schon sein musste, einem ortsansässigen Bewerber den Vorzug geben wollte.

 

Kalt abgeschmettert

Davon gab es im Sommer 1946 gleich zwei: das «Consortium Munot» und die verwitwete Johanna Zehnder-Wüthrich, Schwiegertochter von Rüden-Gründer Gottfried Zehnder-Fässler, die im «Buchsbaum» an der Oberstadt ein Kino einrichten wollte. Vorerst aber wurden auch diese beiden Gesuche aus «städtebaulichen Gründen» kalt abgeschmettert. Doch gab Johanna Zehnder nicht auf und hiess die Architekten Scherrer und Meyer, ein zweites Projekt auszuarbeiten. Diesem konnte der Stadtrat die «prinzipielle Zustimmung» nun nicht mehr verwehren, obwohl er weitere Kinos auf dem Platz Schaffhausen «nach wie vor als nicht erwünscht» erachtete.

 

Das lange Warten

Bevor mit dem Umbau des «Buchsbaums» begonnen werden konnte, gab es eine Menge weiterer Querelen durchzustehen. Nicht nur mit der Stadt, die peinlich genaue Auflagen stellte, sondern auch mit den Nachbarn, die von der Auskernung des Hauses eine Schwächung der gemeinsamen Stützmauern erwarteten. So dauerte es also nicht nur wegen der Grösse des Bauprojekts rund zwei Jahre, bis das neue Kino tatsächlich eröffnet werden konnte. Doch lohnte sich das lange Warten schliesslich: Die «ästhetisch einwandfreie Umgestaltung eines der ältesten und charakteristischen Häuser unserer Stadt» sei beim Umbau des «Buchsbaums» «restlos geglück», schrieb die «Schaffhauser Zeitung»

 

Ende August 1948 und pries das neue Kino als «das weitherum best ausgestattete und schönste Lichtspieltheater». Dabei mochte insbesondere die Gestaltung der Eingangshalle den ungenannten Journalisten bezaubern: «Der Eintretende wird unwillkürlich von Feierstimmung umfangen. Die Erhebung aus dem Alltag ist eine vollständige. Man ist ja auch zu einer Feierstunde erschienen.»

 

Die Eliminierung des Schlechten

Diese feierliche Erhebung aus dem Alltag bringe aber auch eine Verpflichtung mit sich, fuhr die «Schaffhauser Zeitung» nun schon wieder etwas nüchterner fort, «die Verpflichtung zu einer von einem ebenso echten Geschmack geleiteten Auswahl der Filme» nämlich. Beeinflusst wurde diese Auswahl damals -und über weite Strecken auch heute noch - vom Zwäng zum Kollektivabschluss. Der Verleiher bot dem Kinobetreiber nicht einzelne Filme, sondern ganze Filmpakete an. Darunter befänden sich neben zwei guten und zwei mittleren meist zehn schlechte Streifen, Hessen Johanna Zehnder und ihr Schwager Hans Frauenfelder die Leserinnen und Leser der «Schaffhauser Nachrichten» wissen. Doch werde man die «bedenklichsten Nieten» nicht spielen, versicherten sie den um die gute Moral Bangenden. Es liege ihnen nichts daran, den Namen ihres Kinos «allzu sehr zu beeinträchtigen». Gleichzeitig mussten sie jedoch offen bekennen, dass finanzielle Gründe dieser «Eliminierung» ihre Grenzen setzten. Hohe Kunst und rentabler Schund: Das waren eben die beiden Pole, zwischen denen die Kinobesitzer notgedrungen pendelten, um ihre Betriebe über Wasser zu halten.

 

Terror über der Stadt

Nun, da der «Buchsbaum» in vielbestauntem Glanz erstrahlte (zur Premiere war die gesamte Polit-Prominenz der Stadt erschienen), drängte sich die Frage auf, was mit dem 1926 eröffneten «Rüden» geschehen solle. Eine Renovierung des alten Kinos schien unumgänglich. Wieder zog Johanna Zehnder die Architekten Scherrer & Meyer zu Rate. Und diesmal ging alles schnell und glatt. Nach eineinhalb Monaten Bauzeit öffnete der «Rüden» am 28. Dezember 1950 wieder seine Türen. Natürlich hatte er auch nach der Renovation kein so Ehrfurcht gebietendes Foyer wie der «Buchsbaum» vorzuweisen, dafür erfreuten Kurt Scheffmachers phantasievolle Wandmalereien die Augen und die gepolsterten Sessel die Hintern der Besucherinnen und Besucher. Als die neckische Raumbeleuchtung an diesem Donnerstag abend um 20 Uhr schliesslich erlosch und Kurt Scheffmachers Gemälde im Dunkeln versanken, herrschte übrigens «Terror über der Stadt», ein am Filmfestival Locarno ausgezeichneter Krimi.

 

Die Entdeckung der Häuslichkeit

Vom Terror verschont blieb vorläufig das Kinogewerbe. Zwar gab es Ende August 1948, als das Kino «Buchsbaum» eröffnet wurde, anlässlich der 20. Radio-Ausstellung im Zürcher Kongresshaus, bereits die ersten Fernsehvorführungen zu bestaunen. Doch glaubte der Korrespondent des «Intelligenzblattes» angesichts der grossen technischen Probleme, dass die «Fernseh-Bäume nicht zu schnell in Himmel wachsen» würden. Tatsächlich hatte die Lust am Kino ihren Höhepunkt noch nicht erreicht. Der folgte erst in den Jahren 1957 bis 1959. Danach verwandelte sich der Höhen- in einen rasanten Sturzflug, der nun eben doch durch das Fernsehen verursacht wurde. Dieses dämlich breitete sich mit grosser Geschwindigkeit aus: Anstelle der 78 7000 Fernsehkonzessionen, die 1959 erteilt worden waren, registrierte man 1966 schon mehr als 750000 Flimmerkisten. Viele ehemalige Kinofans degenerierten zu Stubenhockern, und das Kino begann ums Überleben zu kämpfen.

 

Einer, der das Kino liebte

Annetta Zehnder-Wright hat an diesem Kampf teilgenommen. Als Musikerin ist die temperamentvolle Engländerin 1964 auf einer ihrer Tourneen nach Schaffhausen gekommen, ist im Restaurant Rüden, wo es am Wochenende meist Musik und Tanz gab, aufgetreten, hat dort Gottfried Zehnder, den Sohn Johanna Zehnders, kennengelernt, hat sich in ihn verliebt und ist gleich in Schaffhausen geblieben. Freddy Zehnder, ihr Schwärm, war schon damals ein stadtbekannter Mann. Eine imposante Persönlichkeit, physisch und geistig; als Jazzmusiker ein Entertainer, als enthusiastischer Filmliebhaber ein nachdenklicher Mann. «Er liebte das Kino», sagt Annetta Zehnder von ihrem 1977 verstorbenen Ehemann, «oft sassen wir stundenlang in den Zürcher Kinos und haben uns die Filme angeschaut, die wir in Schaffhausen zeigen wollten.»

 

Gottfried Zehnder war einer, der noch ans Kino glaubte. Berühmte Filmkritiker lud er zu Vorträgen, Schauspieler und Regisseure zu Diskussionen ein. So wollte er die Schaffhauserinnen und Schaffhauser für das Kunstwerk «Film» und das Kino als gesellschaftliche Begegnungsstätte sensibilisieren. Doch gelang ihm dies nur halb: «Immer ausverkauft», sagt Annetta Zehnder, «war jeweils nur eine Reihe - die hinterste, dort wo es sich am ungestörtesten küssen Hess.»

 

Die Zeit im Spiegel des Kinos

Film und Liebe, die hätte man bis vor ein paar Jahrzehnten noch kaum voneinander trennen können, meint Annetta Zehnder. Heute fehle die «Romantik und Naivität» schon etwas, doch sei der Film eben ein Spiegel der Zeit, einer Zeit, die «härter geworden» ist. Dennoch: Allzuviel nostalgische Wehmut ist nicht Annetta Zehnders Sache. Zwar erinnert sie sich gerne an ihre Zeit hinter der Kinokasse, an die leuchtenden Augen der Kleinsten während der Kindervorstellungen, an das Lachen, das manchmal das ganze Kino erfüllte, und an die Stammkunden, von denen ihr im Laufe der Jahre manche ans Herz wuchsen. Auch denkt sie immer noch oft an die beiden Placeure Ernst Baumberger und Hans Herzig, an die «zwei guten Seelen», die beide den Kinos fünfzig Jahre lang die Treue gehalten haben. Über all dem vergisst sie aber auch nicht die Schattenseiten, die harte Arbeit und den immensen finanziellen Druck, der auf den beiden Kinos lastete. So empfand es denn Annettta Zehnder auch eher als Erleichterung, dass Freddy und seine Schwester Charlotte Zehnder «Rüden» und «Buchsbaum» Ende der sechziger Jahre verpachteten. Es sei Zeit gewesen, die Kinos aufzugeben, sagt Annetta Zehnder ohne Ressentiments, denn so wie «wir auf Erden alle auch nur Passanten» seien, so haben auch die grosse Zeit des Kinos einmal vorübergehen müssen.

 

Verlumpt und verlottert

Tatsächlich war mit dem Wechsel Gottfried Zehnders zu den «Schaffhauser Nachrichten» - er nahm sich dort des Ressorts «Ausland» an -nicht nur die Ära Zehnder, sondern auch die Blütezeit von «Rüden» und «Buchsbaum» zu Ende. Die Filme, die in den beiden Kinos zu sehen waren, wurden schlechter, und die Bausubstanz bröckelte zusehends vor sich hin. Zwar führte Jürg Jenny, der als letzter Pächter zwölf Jahre lang für «Rüden» und «Buchsbaum» verantwortlich war, die beiden Kinos noch bis Mitte Juni 1991, an grössere Investitionen in die Bau- und Filmsubstanz aber war nicht mehr zu denken. Denn der Entscheid, die Liegenschaften umzubauen, war schon lange gefallen. So kam es schliesslich, dass die einst so stolzen Kinos im Laufe der Jahre «immer mehr verlumpten und verlotterten», wie Annetta Zehnder es nennt. Das mitanzusehen, tat weh. Gleichzeitig aber erleichterte ihr der langsame Zerfall das endgültige Abschiednehmen von Bauten und Räumen, an die sich viele Erinnerungen hefteten.

 

Der Film ist aus

Wie jede Geschichte einen Anfang hat, hat sie auch ein Ende -das zumindest legt uns der Abspann aller alten Kinofilme nahe. Verschwiegen wird dabei, dass zu The End auch immer ein neuer Anfang gehört. Für «Rüden» und «Buchsbaum» beginnt die Fortsetzung der Geschichte im November dieses Jahres. Dann nämlich wird nach langjähriger Planung mit dem Umbau der Liegenschaften begonnen (siehe SN vom 21. Mai). Bereits im Frühjahr 1995 soll das zwischen 15 und 18 Millionen Franken verschlingende Bauvorhaben beendet sein. Vorgesehen ist eine sogenannte «gemischte Nutzung» mit Läden, Büros, 22 Wohnungen und einem Cafe.

 

So weit, so gut, werden sich die «Rüden/Buchsbaum»-Fans sagen, doch wo bleibt das in früheren Planungsphasen versprochene Kino? Schwer zu sagen. Bis jetzt jedenfalls hat sich noch niemand gefunden, der im Untergeschoss Filme abspulen will oder kann. Nachdem auch die Verhandlungen mit Hans Fleck, dem Betreiber der letzten vier Schaffhauser Kinos, scheiterten, ist für Architekt Felix Aries das «Kino gestorben». - Der Film ist zu Ende, doch ohne Happy-End

Obwohl die Kinos als ehemals wichtigste Refugien für unerfüllte Träume und geheimgehaltene Illusionen mehrere Generationen prägten, hat die Geschichte der «Lichtspieltheater» und «Kinematographen» die Historiker bislang nur wenig interessiert. Darum ist die Suche nach verborgenen cineastischen Sedimenten meist auch sehr aufwendig. Nicht ganz so schwierig jedoch ist die Sache im Fall von «Rüden» und «Buchsbaum»: Die beiden Kinos haben die Menschen zu sehr fasziniert, um ganz in Vergessenheit geraten zu können.

Quelle: Schaffhauser Nachrichten, 23. Mai 1992